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"Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung", 15.10.2006, Nr. 41, S. 64  
     
Möbel-Origami für Fortgeschrittene

Faltstühle sind seit der Bronzezeit bekannt. Der Berliner Designer Nils Frederking hat die alten Klappmechanismen nun überarbeitet und damit erstaunlich tragbare Möbel geschaffen.

VON PETER-PHILIPP SCHMITT

Welch ein behagliches Wort: Fauteuil. Das klingt nach Polstern und Armlehnen, zwischen die man sich fläzen kann. Daß es sich um die französische Verballhornung eines Wortes handelt, das ursprünglich aus dem Germanischen stammt, läßt sich kaum noch erahnen: fauteuil - faldestueil - faldestoel - faltistuol. Das erklärt manches: zum Beispiel, wie Napoleons Marschall Alexander Berthier zu Tode gekommen sein könnte. Berthier stürzte am 1. Juni 1815 zur Mittagszeit aus dem obersten Stockwerk der Bamberger Residenz, nachdem er auf einen Fauteuil geklettert war, um sich aus einem der Fenster zu lehnen. Der Marschall wollte vor den russischen Truppen fliehen, die sich der Stadt näherten. Um gut sehen zu können, war er also auf das Möbel gestiegen. Dann, so schrieb das "Bamberger Tagblatt" nach Zeugenaussagen, habe man den Sessel fallen hören, und Madame Gallien, Bonne der fürstlichen Kinder, habe sich von dem unglücklichen Sturze überzeugen müssen. Besonders stabil kann der Fauteuil nicht gewesen sein, der Offizier stand wohl auf einem Faltstuhl. Oder wurde Berthier doch, wie andere Zeugen berichteten, von maskierten Männern aus dem Fenster geworfen? Erstaunlicherweise hatten die Vorfahren des heutigen Klappstuhls einen guten Ruf. Einen hervorragenden sogar, waren sie doch Königen, Konsuln und Bischöfen - als Teil ihrer Pontifikalien - vorbehalten. Diesen Herrschaften ging es gewiß nicht darum, Platz noch in der kleinsten Hütte zu schaffen; ihr Faltstuhl, das sogenannte Faldistorium, war vielmehr Symbol der Mobilität. Wer viel unterwegs war und einen bestimmten Rang hatte, wollte trotzdem stets angemessen sitzen können. In dieser Tradition sieht sich der Berliner Designer Nils Frederking. Er entwirft tragbare Möbel, die zwar nicht aufwendig verziert sind. Doch mit weiteren Varianten kurzlebigen Camping-, Balkon- oder Küchengestühls gibt er sich ebenfalls nicht ab. Frederking ist diplomierter Komponist und Konzertharfenist. Sein Instrument steht - vor neugierigen Blicken, Staub und Dreck unter einer dunklen Schutzhülle verborgen - in einem kleinen Raum, der an seine Werkstatt grenzt. Erst seit kurzem hat er den idealen Arbeitsplatz für sich gefunden: in einem alten Berliner Steinmetzhof an der Ortsteilgrenze zwischen Weißensee und Prenzlauer Berg. Spätestens dort hat er seine Musikerkarriere aufgegeben und ist zum Klappmöbel-Entwerfer geworden. "Dazu", sagt der schmächtige Mittdreißiger, "paßt das Harfespielen nicht. Dafür habe ich den Kopf nicht frei." Den Kopf muß er frei haben, denn Frederking steht nicht vollkommen in der Faltstuhl-Tradition: Die mittelalterlichen Möbel mit ihren oft textilen Sitzflächen hatten die Form eines X, das sich von den Seiten - den Armlehnen - her einfach zusammenschieben ließ. Den 1971 in Heidelberg Geborenen faszinieren aber raffiniertere Mechanismen, die trotzdem mit wenigen Handgriffen aus einem großen Ganzen etwas kleines Flaches werden lassen. Dabei erschließt sich die ausgeklügelte Technik nicht immer auf den ersten Blick. Doch hat man den Klappvorgang erst durchschaut, zeigt sich, daß dieser höchst praktikabel ist. Der Designer besteht zudem auf einem ästhetischen Prozeß, der der Schönheit seiner Möbel in jedem Stadium ihrer Verkleinerung gerecht wird. Bestes Beispiel ist Frederkings erste Arbeit, die an einen klassischen Bugholzstuhl aus dem Hause Thonet oder auch an Josef Hoffmanns "Biach Interieur" aus dem Jahr 1905 erinnert. Die geschwungene Form, die den Sitzenden umschließt, scheint zunächst für ein sinnvolles Zusammenklappen ungeeignet. Doch sobald man die Sitzfläche (aus schichtverleimtem Birkenholz) nach vorne aufgerichtet hat, läßt sich das am Rücken geteilte Halbrund mit zwei simplen Handgriffen sichelförmig ineinanderlegen. "Die geschwungene Form bleibt erhalten", sagt Frederking. "Das war mir besonders wichtig." Sie sorgt auch dafür, daß das um mehr als die Hälfte (von 41 auf 16 Zentimeter, die Stapeltiefe beträgt sogar nur acht Zentimeter) reduzierte Stahlmöbel noch immer selbst stehen kann: So passen 22 Stühle auf einen Quadratmeter, ohne umzufallen. Nils Frederking ist Autodidakt. Schweißen, biegen, verleimen - er hat sich alles selbst beigebracht. Sogar die monströse Hydraulikpresse in seiner Werkstatt mit einer Kraft von 90 Tonnen hat er eigenhändig errichtet. Auslöser für all sein Tun war eine Begegnung in Paris, wo er auf einen Gleichgesinnten traf, der sich schon länger an Klappmöbeln versuchte. Aus Frankreich zurückgekehrt, machte er sich sogleich an die Arbeit - zunächst noch in seiner Berliner WG. Dort lernte er - auch aus seinen Fehlern: "Meinen ersten Prototyp stellte ich aus Edelstahl her", erzählt Frederking. "So eine kostspielige Materialverschwendung würde sich ein gelernter Designer wohl nie leisten." Alle seine chronologisch durchnumerierten Arbeiten tragen seinen Namen - F wie Frederking. Nach dem gebogenen Klappstuhl F1 entwarf er den dazu gut passenden Klapptisch F2. Und wieder ließ er sich den durchdachten Mechanismus patentieren: Die drei Fußteile des Tisches lassen sich drehend zusammenschieben, während sich die dreigeteilte Platte zugleich zusammenfaltet - fast wie bei einem St.-Martins-Lampion. Am Ende ist das Möbel, an dem sechs Personen Platz haben, noch knapp acht Zentimeter breit. Für diese Leistung bekam der Berliner schon vor drei Jahren den "Interior Innovation Award" der Kölner Möbelmesse. Natürlich hat sich Frederking auch den fast vierzig Jahre alten Klappstuhl-Klassiker schlechthin vorgenommen: den Millionenseller "Plia" (Castelli) von Giancarlo Piretti. Und es könnte sich eine weitere Klappstuhl-Revolution anbahnen: Bei Pirettis Stuhl wird die Sitzfläche nach oben geklappt, das Möbel läßt sich so zwar zusammenlegen, behält aber auch seine ursprüngliche Größe. Bei Frederkings F8 hingegen hält man einfach den hinten an der Sitzfläche befindlichen Griff fest und schwenkt die Rückenlehne nach vorne. Der zusammengeklappte Stuhl wird nicht nur zehn Zentimeter kürzer, er wird auch so flach wie kein anderes vergleichbares Möbel: knappe drei Zentimeter. Ein Patent ist beantragt. Zudem verschwinden die auf Wunsch mit feinem Kalbsleder bezogenen Polster zwischen Sitzfläche und Rückenlehne und sind somit bei Ausflügen geschützt. Das Vier-Kilo-Leichtgewicht mit dem praktischen Tragegriff lädt nämlich zum Mitnehmen ein. Die ersten acht Stühle verkaufte Frederking, kaum daß er sie fertiggestellt hatte - bei seiner Werkstatteröffnung.

Weitere Informationen auf der Internetseite www.nils-frederking.de.

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